Слике страница
PDF
ePub

Voltaire als Ästhetiker und Literarkritiker.'

Ob es der Mühe wert ist, mit Voltaire dem Ästhetiker sich eingehend zu beschäftigen, wird mancher bezweifeln, der im Urteil der Lessingschen Dramaturgie einen Spruch sieht, gegen den es keine Berufung gibt. Wie tief dieses Urteil in Deutschland nachwirkt, sieht man noch an dem grundlegenden und klassischen Werk des früh vollendeten Heinrich von Stein 'Die Entstehung der neueren Ästhetik'. Voltaire wird dort mit einigen Zitaten abgemacht, während weit geringere Köpfe liebevolle Würdigung finden. Und im heutigen Frankreich hat die Antipathie Brunetières gegen Voltaire ähnlich gewirkt, auch auf solche, die die tiefer liegenden Gründe dieser Antipathie des berühmten Kritikers nicht teilen. Nun sehe man aber einmal zu, mit welcher Lebhaftigkeit eben dieser die neuere französische Literarkritik beherrschende Geist in allen möglichen Zusammenhängen sich immer wieder mit Voltaires Urteilen auseinandersetzt, oft feindlich und höhnend, öfters auch in ganz entgegengesetztem Sinn, wie einer, der sich auf einen klassischen Zeugen beruft, immer wie wenn er einen Lebendigen vor sich hätte, von dem er nicht loskommen kann. Und in der Tat, wenn wir Deutsche den französischen Klassizismus heute anders beurteilen als ihn Lessing in seiner Kampfesstellung gesehen hat, wenn wir mit Heinrich von Stein Boileaus Leistung wieder volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, so ist es an der Zeit, dafs wir auch Voltaire wieder die Stelle zuweisen, die ihm gebührt, und die ihm der tiefer sehende Goethe nicht versagt hat. Ich wage die Behauptung, dafs diejenigen Leser dieser rein referierenden Abhandlung, die Voltaire den Ästhetiker im wesentlichen nur aus Lessing kennen, sie als eine Ehrenrettung für ihn empfinden werden.

=

[ocr errors]

' Verzeichnis der Abkürzungen in Fufsnoten: App. Appel à toutes les nations de l'Europe. Con. Connaissances des beautés et des défauts de la poésie et de l'éloquence. D. Dictionnaire philosophique. Disc. = Discours de M. de Voltaire à sa réception à l'Académie française. E. Essai sur les mœurs et l'esprit des nations. Gaz. Articles extraits de la Gazette littéraire. Journ. Conseils à un Journaliste. L. XIV. = Siècle de Louis XIV. Lett. Lettre de M. de Voltaire à l'Académie française. L. ph. Lettres philosophiques. Mol. Vie de Molière. Par. Parallèle d'Horace, de Boileau et de Pope. Rem. Remarques sur Pascal. Visc. Lettre de M. de la Visclède.

=

=

=

Die Abhandlung gliedert sich, ihrem Titel entsprechend, in einen dogmatischen und einen historischen Teil, welch letzterer hier insofern nicht ein Parergon ist, als Voltaires Literaturgeschichte, im Gegensatz zu vielen historisierenden Werken des 19. Jahrhunderts, durchaus auf einer Ästhetik aufgebaut ist und sie so ihrerseits illustriert.

I.

Der ästhetische Grundbegriff, der an die Stelle der Boileauschen 'raison' tritt, und an dem man die ganze Ästhetik Voltaires, soweit sie Prinzipienlehre ist, entwickeln kann, ist der Begriff des Geschmacks.1

Es genügt nicht, die Schönheit eines Werkes einzusehen und zu erkennen; man mufs sie fühlen. In ästhetischen Dingen läfst sich unsere Reflexion in letzter Linie auf einen Gefühlseindruck zurückführen (notre raisonnement se réduit à céder au sentiment, Rem. 47). Das Organ für diese Funktion ist der Instinkt, den man Geschmack heifst' (Essai sur la poésie épique). Der Gegensatz zur ästhetischen Stimmung der vorhergehenden Generation, der in der neuen Verwendung dieses Begriffs liegt, tritt hübsch zutage Rem. 48: Pascal meinte, wer ein Kunstwerk nur nach dem allgemeinen Eindruck, nicht nach den Regeln beurteile, gleiche dem, der die Zeit nur schätze, statt sie nach der Uhr zu bestimmen. Voltaire erwidert: 'In ästhetischen Dingen ist eben der Geschmack unsere Uhr; wer nur nach den Regeln urteilt, urteilt schlecht.' Der ästhetische Geschmack ('goût intellectuel), so genannt zur Unterscheidung vom goût sensuel oder physique, der der Metapher zugrunde liegt) ist primär ein Gefühl, das der Reflexion vorausgeht, genauer ein lebhaftes, von starken Lust- und Unlustempfindungen begleitetes, doch nicht immer seiner selbst sicheres Unterscheidungsgefühl für das ästhetisch Schöne und Fehlerhafte. Diese Ausrüstung ist offenbar als angeboren zu denken, obwohl abnorme Fälle vorkommen, wo sie ganz zu fehlen scheint es gibt eiskalte Seelen und verkehrte Köpfe, die man nicht erwärmen und zurechtbringen kann; Fälle, für die das Wort zutrifft, dafs man über Geschmacksfragen nicht streiten soll. Im übrigen ist der Geschmack den einzelnen in verschiedenen Graden der Vollkommenheit mitgegeben und zeigt Stufenunterschiede der Qualität nach dem Grad der ihm gewidmeten Ausbildung. Von der verworrenen Rührung des Gefühls unterscheidet sich das rasch und sicher reagierende Gefühlsurteil des Kenners, dem keine Abstufung entgeht und der die verschiedenen Stilfärbungen, wo sie etwa vermischt wurden, scharf aus

'S. D.: Goût I und II für diesen ganzen Abschnitt.

Der

Geschmack.

einanderhält, so wie ein gourmet in einer Getränkemischung die verschiedenen Bestandtteile noch wohl herausschmeckt.

Die Notwendigkeit und Möglichkeit der Ausbildung dieses Organs betont Voltaire stark. Sie ist viel weniger eingeschränkt, als es beim sinnlichen Geschmack der Fall ist, braucht allerdings auch mehr Zeit. Der empfängliche, aber ungebildete junge Mann unterscheidet in einem Chor die verschiedenen Stimmen zunächst nicht, an einem Gemälde sieht er die Abstufungen und die Harmonie der Farben, die Korrektheit der Umrisse, das Helldunkel und die Perspektive nicht, bei einer Tragödie empfindet er nur eine unbestimmte Rührung; erst Übung und Nachdenken öffnet ihm Augen und Ohren und gibt seinem Geist einen Genufs an der Kunst des Künstlers. Der feine Geschmack des Kenners empfindet einen Fehler aus lauter Schönheiten und eine Schönheit aus lauter Fehlern sofort heraus. Voltaire legt sich die interessante Frage vor, ob es wirklich wünschenswert sei, ein so empfindliches Feingefühl zu haben, ob der Verlust der ästhetischen Naivität nicht ein wirklicher Verlust sei. Wird der Kenner nicht allzu unangenehm berührt von Fehlern, wird er nicht allzu kritisch gegen Schönheiten? Voltaire ist nicht dieser Meinung. Künstlerisches Vergnügen gibt es doch wirklich nur für Leute von Geschmack. Wie ein Mensch mit guten Augen mehr sieht als einer mit schlechten, so empfinden sie, was weniger fein Organisierten und Gebildeten entgeht, wovon diese keine Ahnung haben; von den entdeckten Fehlern heben sich die Schönheiten um so heller ab und selbst die Entdeckung der Fehler ist eine Genugtuung, die ihr Wohltuendes hat.

Die Bildung des Geschmacks hängt nun allerdings von gewissen Bedingungen ab, was man am besten erkennt, wenn man vom Individuum absieht und sich der Völkerpsychologie zuwendet. Es gibt ungeheure Länderstrecken, in denen von Geschmack nichts zu sehen ist. Es sind das diejenigen, in denen das gesellschaftliche Leben noch nicht entwickelt ist, wo es besonders an der Mischung der Geschlechter fehlt oder wo die Religion einen hemmenden Einfluss ausübt, indem sie gewisse Künste, wie die Skulptur oder die Malerei, verbietet oder fesselt. Ohne gesellschaftliches Leben aber wird der Geist eng und stumpf, und die Künste sind unter sich solidarisch und können nur alle miteinander gedeihen (E. c. 82). Auch ist erst da die Bahn frei für die schönen Künste, wo schon die Technik für ein gewisses Behagen des Lebens gesorgt hat. Das Überflüssige kann erst nach dem Notwendigen kommen (E. c. 82). Darum haben die Asiaten in keiner Gattung ein vollkommenes Werk hervorgebracht, und darum ist der Geschmack ein Privileg der europäischen Völker. Ja, da wo Voltaire die erste der genann

ten Bedingungen in ihrer vollen Schärfe fafst, wird ihm der Geschmack schliefslich zu einer so aristokratischen und exklusiven Gröfse, dafs er selbst davon betroffen ist: Es ist betrübend zu sehen, wie besonders in feuchten und kalten Himmelsstrichen so ungeheuer viele Menschen auch nicht einen Funken von Geschmack haben. Sie lieben die Kunst nicht, sie lesen nie, höchstens einige durchblättern einmal im Monat eine Zeitung, um auf dem Laufenden zu sein und um aufs Geratewohl von Dingen mitreden zu können, von denen sie kaum eine Ahnung haben. In Provinzstädtchen findet man selten einen oder zwei Buchhändler. Man nehme den Richter, den Stiftsherrn, den Bischof, den subdélégué, den élu, den Steuereinnehmer, den wohlhabenden Bürger, kein Mensch hat Bücher, kein Mensch ist gebildet, man ist nicht weiter voran als im 12. Jahrhundert. Sogar in Provinzialhauptstädten, sogar an den Sitzen der Akademien ist der Geschmack etwas Seltenes. Nur in der Hauptstadt eines grofsen Reiches kann er eine dauernde Stätte finden. Und auch da ist er, wie die Philosophie, ein Vorrecht weniger. Nicht blofs der Pöbel hat keinen Teil an ihm; fremd ist er auch den Bourgeoisfamilien, die von ihren Haushaltungssorgen hingenommen sind oder ihre Finanzen im Kopfe haben oder sich einem rohen Müfsiggang hingeben, für den eine Spielpartie das einzige Vergnügen ist. Das gleiche gilt von den Kreisen des Handels und der Finanz, von der Verwaltungs- und Gerichtswelt. Ich kannte einen gescheiten Bureaubeamten von Versailles, der sagte: Es tut mir leid, aber ich habe keine Zeit, Geschmack zu haben.' Der Geschmack hat, zur Schande des Menschengeschlechts sei es gesagt, eine Heimstätte nur in den Kreisen des vornehmen und reichen Müfsiggangs; darum kommen auf die 600 000 Seelen von Paris kaum 3000, die Geschmack haben. Beweis: Von einem dramatischen Meisterwerk kann man wohl sagen, es entzücke 'ganz Paris', aber in mehr als 3000 Exemplaren druckt man es nie. Ein gewisser Trost ist ja, dafs dieses kleine Häuflein eine nicht zu unterschätzende Macht über die Umwelt ausübt. In dem Rausch, den das Cliquenwesen und die dumme Begeisterung der Menge erzeugen, mag man das Schlechte und Häfsliche eine Zeitlang nicht als solches erkennen, aber schliesslich bringen doch die Kenner das Publikum zurecht. Und das macht eigentlich den Unterschied gebildeter und roher Völker aus. Der Pöbel von Paris ist wie anderer Pöbel. Aber es gibt in Paris eine nicht unbeträchtliche Zahl gebildeter Geister, die imstande sind, die Menge zu führen. Immerhin erscheint der Bezirk des Geschmacks womöglich in noch engeren Grenzen beschlossen, wenn wir zu diesem räumlichen Überblick die entsprechende zeitlichgeschichtliche Betrachtung stellen und bedenken, dafs der Klas

Archiv f. n. Sprachen. CXIX.

8

Das

Problem des

schmacks'.

sizist Voltaire nur den klassischen Epochen Geschmack zubilligt (s. u.).

Wir tragen nun: Hat der gebildete Geschmack, der sich guten Ge auf gewisse Räume des Kulturbereichs und auf gewisse Epochen geschichtlicher Entwicklung konzentriert, absolute Geltung, ist es der gute Geschmack' schlechthin? So dogmatisch sich Voltaire hierüber oft in bejahendem Sinne ausspricht, das Problem, das sich an diesem Punkt erhebt, das Problem: 'Sind die ästhetischen Normen absolut oder relativ?' hat er doch scharf gesehen. Für den geschichtlich fein gebildeten Voltaire, der seine Reisen gemacht hatte, lagen die Dinge doch anders als für den Stockpariser Boileau. Er weifs, dafs Unterschiede des Klimas und Bodens, der politischen und kulturellen Struktur ästhetisch nicht belanglos sind. In kalten und feuchten Ländern ist Architektur, Wohnungseinrichtung und Tracht anders als in Rom und Sizilien. Virgil und Theokrit müssen anders vom Schatten und vom frischen Wasser sprechen, als Thomson, der Verfasser der Jahreszeiten. Das Schiffswesen, die politischen Rechte und Freiheiten und die englischen Bräuche werden den englischen Erzeugnissen eine besondere Färbung geben. Eine geistvolle, der Geselligkeit mit Leidenschaft ergebene Nation wird eine andere Auffassung des Komischen, folglich ein anderes Lustspielideal haben, als eine ebenso gebildete, aber weniger gesellige Nation.

Das Schöne.

Wer hat nun recht? Hat jemand recht? Hat der eine mehr recht als der andere? Dazu müssten wir wissen, was das Schöne ist. Erkundigen wir uns bei Plato, so finden wir sehr schöne Reden, aber keine klaren und deutlichen Gedanken. Fragen wir eine Kröte, was ist tò xuλór? so wird sie antworten: Mein Krötenweibchen mit ihren zwei grofsen, runden vorstehenden Augen, ihrem breiten, platten Maul, ihrem gelben Bauch und braunen Rücken. Fragen wir einen Guineaneger, so ist ihm das Schöne eine schwarze, ölige Haut, tiefliegende Augen und eine plattgedrückte Nase. Der Teufel wird uns sagen, das Schöne seien ein paar Hörner, vier Klauen und ein Schwanz. Der Philosoph hat auf die Frage irgend einen Gallimathias zur Hand; nach ihm muss es etwas sein, das dem Urbild des Schönen dem Wesen nach, dem zuλóv, entspricht: 'Ich ging einmal mit einem Philosophen in ein Trauerspiel. Wie schön das ist! sagte er. Was finden Sie daran schön? fragte ich. Der Verfasser hat seinen Zweck erreicht, war die Antwort. Am andern Tag nahm er eine Arznei, die ihm gut bekam. Sie hat ihren Zweck erreicht, sagte ich, das ist eine schöne Arznei. Er begriff, dafs man eine Arznei nicht schön heifsen kann, und dafs, was so heifsen soll, Bewunderung und Gefallen erregen mufs. Das Trauerspiel hatte diese zwei Gefühle in ihm erregt, und das

« ПретходнаНастави »