stimmten natürlichen Gesichtskreis, und dieses war es, was den alten Gemälden fehlte. Die Grundfläche in den Gemälden des Polygnotus war nicht horizontal, sondern nach hinten zu so gewaltig in die Höhe gezogen, daß die Figuren, welche hinter5 einander zu stehen scheinen sollten, übereinander zu stehen schienen. Und wenn diese Stellung der verschiednen Figuren und ihrer Gruppen allgemein gewesen, wie aus den alten Basreliefs, wo die hintersten allezeit höher stehen als die vodersten und über sie wegsehen, sich schließen läßt: so ist es natürlich, 10 daß man sie auch in der Beschreibung des Homers annimmt und diejenigen von seinen Bildern, die sich nach selbiger in ein Gemälde verbinden lassen, nicht unnötigerweise trennet. Die doppelte Szene der friedfertigen Stadt, durch deren Straßen der fröhliche Auszug einer Hochzeitfeier ging, indem auf dem 15 Markte ein wichtiger Prozeß entschieden ward, erfordert diesem zufolge kein doppeltes Gemälde, und Homer hat es gar wohl als ein einziges denken können, indem er sich die ganze Stadt aus einem so hohen Augenpunkte vorstellte, daß er die freie Aussicht zugleich in die Straßen und auf den Markt dadurch erhielt. 20 Ich bin der Meinung, daß man auf das eigentliche Perspektivische in den Gemälden nur gelegentlich durch die Szenenmalerei1 gekommen ist; und auch als diese schon in ihrer Vollkommenheit war, muß es noch nicht so leicht gewesen sein, die Regeln derselben auf eine einzige Fläche anzuwenden, indem sich 25 noch in den spätern Gemälden unter den Mtertümern des Herkulaneums 2 so häufige und mannigfaltige Fehler gegen die Perspektiv finden, als man iko kaum einem Lehrlinge vergeben würde*. Doch ich entlasse mich der Mühe, meine zerstreuten Anmerkungen über einen Punkt zu sammeln, über welchen ich in 30 des Herrn Winckelmanns versprochener Geschichte der Kunst die völligste Befriedigung zu erhalten hoffen darf**. * ,,Betrachtungen über die Malerei" 3, S. 185. ** Geschrieben im Jahr 1763. 1 Malerei der Theaterdekorationen. 2 Herkulaneum, richtig Herculanum, die Nachbarstadt Pompejis, 1719 wieder entdeckt. Der Zusak des Artikels scheint zu beweisen, daß Lessing sie für ein einzelnes Gebäude, wohl ein Heiligtum des Herkules, hielt. 3 Von Christian Ludwig von Hagedorn (Leipzig 1762). xx. Ich lenke mich vielmehr wieder in meinen Weg, wenn ein Spaziergänger anders1 einen Weg hat. Was ich von körperlichen Gegenständen überhaupt gesagt habe, das gilt von körperlichen schönen Gegenständen um so 5 viel mehr. Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erfodert also, daß diese Teile nebeneinander liegen müssen; und da Dinge, deren Teile nebeneinanderliegen, 10 der eigentliche Gegenstand der Malerei sind, so kann sie, und nur sie allein, körperliche Schönheit nachahmen. Der Dichter, der die Elemente der Schönheit nur nacheinander zeigen könnte, enthält sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit, gänzlich. Er fühlt es, daß diese 15 Elemente, nacheinander geordnet, unmöglich die Wirkung haben können, die sie, nebeneinander geordnet, haben; daß der konzentrierende Blick, den wir nach ihrer Enumeration2 auf sie zugleich zurücksenden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewähret; daß es über die menschliche Einbildung gehet, 20 sich vorzustellen, was dieser Mund und diese Nase und diese Augen zusammen für einen Effekt haben, wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Komposition solcher Teile erinnern kann. Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: 25 Nireus war schön; Achilles war noch schöner 3; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständlichere Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet. Wie sehr würde ein neuerer Dichter darüber luxuriert haben! 30 Schon ein Constantinus Manasses wollte seine kahle Chronike mit einem Gemälde der Helena auszieren. Ich muß ihm 1 Nämlich überhaupt. 2 Aufzählung. 3 „Jlias", 2. Gesang, V. 671 f.: 1 Geschwelgt. 5 Griechischer Mönch des 12. Jahrhunderts, der eine Weltchronik geschrieben hat. 5 für seinen Versuch danken. Denn ich wüßte wirklich nicht, wo ich sonst ein Exempel auftreiben sollte, aus welchem augenscheinlicher erhelle, wie töricht es sei, etwas zu wagen, das Homer so weislich unterlassen hat. Wenn ich bei ihm lese*: * Constantinus Manasses Compend. Chron. p. 20. Edit. Venet. Die Frau Dacier war mit diesem Porträt des Manasses, bis auf die Tautologieen, sehr wohl zufrieden: „De Helenae pulchritudine omnium optime Constantinus Manasses, nisi in eo tautologiam reprehendas." (Ad Dictyn Cretensem lib. I. cap. 3. p. 5.) Sie führet nach dem Meziriac 3 10 (,,Comment. sur les Epitres d'Ovide“, T. II. p. 361.) auch die Beschreibungen an, welche Dares Phrygius 4 und Cedrenuss von der Schönheit der Helena geben. In der erstern kömmt ein Zug vor, der ein wenig seltsam klingt. Dares sagt nämlich von der Helena, sie habe ein Mal zwischen den Augenbraunen gehabt: „notam inter duo supercilia habentem". Das war doch 15 wohl nichts Schönes? Ich wollte, daß die Französin & ihre Meinung darüber gesagt hätte. Meinesteiles halte ich das Wort nota hier für verfälscht und glaube, daß Dares von dem reden wollen, was bei den Griechen μεσοφρυον 8 und bei den Lateinern glabella hieß. Die Augenbraunen der Helena, will er sagen, liefen nicht zusammen, sondern waren durch einen kleinen Zwischenraum 20 abgesondert. Der Geschmack der Aten war in diesem Punkte verschieden. Einigen gefiel ein solcher Zwischenraum, andern nicht. (Junius de Pictura Vet. lib. III. cap. 9. p. 245.) Anakreon hielt die Mittelstraße; die Augenbraunen seines geliebten Mädchens waren weder merklich getrennet noch völlig ineinander verwachsen; sie verliefen sich sanft in einem einzigen Punkte. Er 25 sagt zu dem Künstler, welcher sie malen sollte (Od. 28.): 30 Το μεσοφρυον δε μη μοι 1 Vgl. S. 24 dieses Bandes, Anm. 2. 2 „Über die Schönheit der Helena schreibt von allen am besten Constantinus Manasses, bis auf die Wiederholungen." 3 Claude Gaspard Bachet, Sieur de Meziriac (1581-1638) erwarb seinen Auf vor allem durch die kommentierte Übersetzung „Epitres d'Ovide" (1626). 4 Bei Homer Priester des Hephaistos; angeblicher Verfasser einer aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. stammenden lateinischen Geschichte des Untergangs Trojas. 5 Georgios Kedrenos (um 1100), Verfasser einer Weltgeschichte. 6 Madame Dacier. 7 Mal. 8 Furche zwischen den Augenbrauen." - 9 Vgl. S. 27 dieses 10 „Anacreontea" (herausgegeben von Rose), Obe 16: Bandes, Anm. 2. „Laß die Bogen dann der Brauen Ἦν ἡ γυνη περικαλλης, εὐοφους, εὐχρουστατη, 5 Ἐβαπτε την λευκοτητα ῥοδοχρια πυρινη, so dünkt mich, ich sehe Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der Spike desselben ein prächtiges Gebäude auf Nach der Lesart des Pauw1, obschon auch ohne sie der Verstand 2 der_näm= liche ist und von Henr. Stephano 3 nicht verfehlet worden: Supercilii nigrantes Sed junge sic ut anceps 10 15 20 Quale esse cernis ipsi. Wenn ich aber den Sinn des Dares getroffen hätte, was müßte man wohl sodann anstatt des Wortes notam lesen? Vielleicht moram? Denn soviel ist gewiß, daß mora nicht allein den Verlauf der Zeit, ehe etwas geschieht, sondern auch die Hinderung, den Zwischenraum von einem zum andern, bedeutet. 25 Ego inquieta montium jaceam mora 4, wünschet sich der rasende Herkules beim Seneca (v. 1215.), welche Stelle Gronovius sehr wohl erklärt: „Optat se medium jacere inter duas Symplegades, illarum velut moram, impedimentum, obicem; qui eas moretur, vetet aut satis arcte conjungi, aut rursus distrahi 6." So heißen auch 30 bei ebendemselben Dichter lacertorum morae sobiel als juncturae 8 (Schroederus ad. v. 762. Thyest). 1 Jan Cornelius de Pauw (gest. 1749) gab 1732 die „Anakreontea" heraus. — 2 Sinn. - 8 Henricus Stephanus (1528-98), der berühmte französische Buchdrucker und Philolog, gab 1554 als der erste die „Anacreontea“ mit lateinischer Übersezung heraus. - 4, daß ich als das ruhelose Hemmnis der Berge daläge.“ - 5 Jo hann Friedrich Gronov (1611-71), Herausgeber der Tragödien des Seneca. — 6 „Er wünscht mitten zwischen den beiden Symplegaden [zwei Klippen an der Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer] zu liegen, gleichsam ihre Verzögerung, ihr Hemmnis, ihr Riegel, der sie aufhält, ihnen verwehrt, sich ganz eng zu vereinigen oder minder auseinanderzuweichen." - 7 „Der Naum zwischen den Oberarmen." 8 Verbindungen. -- „Schön erschien das Weib, an Farbe schön, die Augenbrauen schön, geführet werden soll, die aber alle auf der andern Seite von selbst wieder herabrollen. Was für ein Bild hinterläßt er, dieser Schwall von Worten? Wie sahe Helena nun aus? Werden nicht, wenn tausend Menschen dieses lesen, sich alle tausend 5 eine eigene Vorstellung von ihr machen? 10 15 20 25 Doch es ist wahr, politische Verse1 eines Mönches sind keine Poesie. Man höre also den Ariost, wenn er seine bezaubernde Mcina schildert*: Di persona era tanto ben formata, Sotto due negri e sottilissimi archi Quindi il naso per mezzo il viso scende * „Orlando Furioso", Canto VII. St. 11-15. „Die Bildung ihrer Gestalt war so reizend, als nur künstliche Maler sie dichten können. Gegen ihr blondes, langes, aufgeknüpftes Haar ist kein Gold, das nicht seinen Glanz verliere. Über ihre zarten Wangen verbreitete sich die vermischte Farbe der Nosen und der Lilien. Ihre fröhliche Stirn, in die gehörigen Schranken ge= 30 schlossen, war von glattem Helfenbein. Unter zween schwarzen, äußerst seinen Weiß die Arme, üppig blühend in der Schönheit vollem Strahl, Daß von Schwänen einst geboren sei die schöne Helena." 1 Bürgerliche Verse, dem Sinne nach soviel wie „Knittelverse", katalektische jambische Trimeter ohne Beachtung der Quantität. |