So wird auch beim Homer der geschleiste Hektor durch das von Blut und Staub entstellte Gesicht und zusammenverklebte Haar, Squallentem barbam et concretos sanguine crines1 (wie es Virgil ausdrückt*), ein ekler Gegenstand, aber eben da- 5 durch um soviel schrecklicher, um soviel rührender. Wer kann die Strafe des Marsyas, beim Ovid, sich ohne Empfindung des Ekels denken**? Clamanti cutis est summos derepta per artus: Nec quidquam nisi vulnus erat: cruor undique manat: 10 Aber wer empfindet auch nicht, daß das Ekelhafte hier an seiner * Aeneid. lib. II. v. 277. 1 2 ** Metamorph. VI. v. 387. Odyss. Sonst alles öde? Nichts verbirgt der hohle Raum? so nimmt sie zu einem andern unangenehmen Gefühle ihre Zuflucht, welches wir im Falle des empfindlichsten Hungers für das kleinere Übel erkennen. Dieses sucht sie zu erregen, um uns aus der Unlust desselben schließen zu lassen, wie stark jene s Unlust sein müsse, bei der wir die gegenwärtige gern aus der Acht schlagen würden. Ovid sagt von der Oreade, welche Ceres an den Hunger abschickte*: 10 Hanc (famem) procul ut vidit - refert mandata deae; paulumque morata, Quanquam aberat longe, quanquam modo venerat illuc, Eine unnatürliche Übertreibung! Der Anblick eines Hungrigen, und wenn es auch der Hunger selbst wäre, hat diese ansteckende Kraft nicht; Erbarmen und Greul und Ekel kann er empfinden 15 lassen, aber keinen Hunger. Diesen Greul hat Ovid in dem Gemälde der Fames nicht gesparet, und in dem Hunger des Eresichthons sind, sowohl bei ihm als bei dem Kallimachus**2, die ekelhaften Züge die stärksten. Nachdem Eresichthon alles aufgezehret und auch der Opferkuh nicht verschonet hatte, die 20 seine Mutter der Vesta ausfütterte, läßt ihn Kallimachus über Pferde und Kaken herfallen und auf den Straßen die Brocken und schmuzigen Überbleibsel von fremden Tischen betteln: 25 Και ταν βων ἐφαγεν, ταν Ἑστιᾳ ἐτρεφε ρεφε ματηρ, * Ibid., lib. VIII. v. 809. — ** Hym. in Cererem v. 109-116. 1 „Diesen (den Hunger) von fern erschauend, Meldet sie ihm der Göttin Befehl, und nach kurzem Verweilen, Fühlte sie sich wie von Hunger gequält" Ceres sendet die Dreade an den Hunger, damit er Eresichthon für das Fällen der ihr ge= heiligten Bäume strafe. 2 Von dem Dichter und Grammatiker Kallimachos (etwa 310-238 v. Chr.) sind u. a. noch sechs Hymnen erhalten, darunter die auf die Ceres. 3 „Und er verzehrte die Kuh, die der Hestia pflegte die Mutter, Und Ovid läßt ihn zuleht die Zähne in seine eigene Glieder sehen, um seinen Leib mit seinem Leibe zu nähren. Vis tamen illa mali postquam consumserat omnem Ipse suos artus lacero divellere morsu Nur darum waren die häßlichen Harpyen so stinkend, so unflätig, daß der Hunger, welchen ihre Entführung der Speisen bewirken sollte, desto schrecklicher würde. Man höre die Klage des Phineus beim Apollonius*2: Τυτθον δ ̓ ἦν ἀρα δη ποτ ̓ ἐδητυος ἀμμι λιπωσι, 5 10 15 Ich möchte gern aus diesem Gesichtspunkte die ekele Einführung der Harpyen beim Virgil entschuldigen; aber es ist kein wirklicher gegenwärtiger Hunger, den sie verursachen, sondern nur ein instehender, den sie prophezeien; und noch dazu 20 löset sich die ganze Prophezeiung endlich in ein Wortspiel auf. Auch Dante bereitet uns nicht nur auf die Geschichte von der Verhungerung des Ugolino durch die ekelhasteste, gräßlichste Stellung, in die er ihn mit seinem ehemaligen Verfolger in der Hölle sehet; sondern auch die Verhungerung selbst ist nicht 25 * Argonaut. lib. II. v. 228-33. 1 „Aber nachdem die Gewalt des Unheils jeglichen Vorrat Fängt er selbst sein Gebein mit verstümmelndein Biß zu benagen 3 „Lassen sie mir auch etwa zurück ein wenig des Mahles, 4 „Äneïs", 3. Gesang, V. 216 ff. - 5 Bevorstehender. - 6 In Dantes „Hölle", 32. Gesang, hält der im Hungerturm umgekommene Ugolino seinen Todfeind Ruggiero umklammert und nagt an dessen Hinterkopf. Nachher wird der Hungertod, den Ugolino mit den Söhnen erlitt geschildert. ohne Züge des Ekels, der uns besonders da sehr merklich überfällt, wo sich die Söhne dem Vater zur Speise anbieten. In der Note will ich noch eine Stelle aus einem Schauspiele von Beaumont und Fletcher1 anführen, die statt aller andern Bei5 spiele hätte sein können, wenn ich sie nicht für ein wenig zu übertrieben erkennen müßte*. * „The Sea-Voyage", Act. III. Sc. I. Ein französischer Seeräuber wird mit seinem Schiffe an eine wüste Insel verschlagen. Habsucht und_Neid_ent= zweien seine Leute und schaffen ein paar Elenden, welche auf dieser Insel 10 geraume Zeit der äußersten Not ausgesetzt gewesen, Gelegenheit, mit dem Schiffe in die See zu stechen. Alles Vorrates von Lebensmitteln sonach auf einmal beraubet, sehen jene Nichtswürdige gar bald den schmählichsten Tod vor Augen, und einer drückt gegen den andern seinen Hunger und seine Ver= zweiflung folgendergestalt aus: 15 20 25 30 35 40 LAMURE. Oh, what a tempest have I my stomach! FRANVILLE. O Lamure, the happinefs my dogs had Happy crusts. Oh, how sharp hunger pinches me! Here be goodly quarries, but they be cruel hard But not a leaf nor blossom in all the island. LAMURE. How it looks! MORILLAT. It stincks too. LAMURE. It may be poison. So I can get is down. Why man, MORILLAT. Hast thou no bisket? No crumbs left in thy pocket? Here is my doublet, FRANVILLE. Not for three kingdoms, 1 Francis Beaumont (1586-1615) und John Fletcher (1576-1625), Zeitgenossen Shakespeares, die ihre Dramen gemeinsam verfaßten. Ich komme auf die ekelhaften Gegenstände in der Malerei. Wenn es auch schon ganz unstreitig wäre, daß es eigentlich gar keine ekelhafte Gegenstände für das Gesicht gäbe, von welchen es sich von sich selbst verstünde, daß die Malerei als schöne Kunst ihrer entsagen würde, so müßte sie dennoch die ekelhaften Gegen- 5 stände überhaupt vermeiden, weil die Verbindung der Begriffe sie auch dem Gesichte ekel macht. Pordenone läßt in einem Gemälde von dem Begräbnisse Christi einen von den Anwesen If I were master of 'em. Oh, Lamure, We have lewdly at midnight flang away. MORILLAT. Ah! but to lick the glasses1. 10 Doch alles dieses ist noch nichts gegen den folgenden Auftritt, wo der Schiffs- 15 chirurgus dazukömmt. FRANVILLE. Here comes the Surgeon. What Hast thou discover'd? Smile, smile and comfort us. SURGEON. I am expiring, Smile they that can. I can find nothing, gentlemen, Oh that I had my boxes and my lints now, 20 My stupes, my tents, ant those sweet helps of nature, What dainty dishes could I make of 'em. MORILLAT. Hast ne'er an old suppository? 25 SURGEON. Oh would I had, Sir. Potion, or pills hath been entomb'd. FRANVILLE. Or the best bladder where a cooling-glister. 30 Nor any old pultesses? FRANVILLE. We care not to what it hath been ministred. Thou cut'st from Hugh the sailor's shoulder? SURGEON. Ay if we had it, gentlemen. 1 Vgl. die Übersetzung in den Anmerkungen am Schlusse dieses Bandes. 2 Bei Lessing übliche Konstruktion; vgl. Bd. 2 dieser Ausgabe, S. 102, 8. 21. 3 Giovanni Antonio da Pordenone (1483-1539), seit 1535 in Venedig tätig. 35 |