an nichts Mangel leiden lassen, die sein Übel, so viel in ihren Kräften stehet, erleichtern, gegen die er unverhohlen klagen und jammern darf: unstreitig werden wir Mitleid mit ihm haben; aber dieses Mitleid dauert nicht in die Länge; endlich zucken wir die Achsel und verweisen ihn zur Geduld. Nur wenn beide 5 Fälle zusammenkommen, wenn der Einsame auch seines Körpers nicht mächtig ist, wenn dem Kranken ebensowenig jemand anders hilft, als er sich selbst helfen kann, und seine Klagen in der öden Luft verfliegen: alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann, über den Unglücklichen 10 zusammenschlagen, und jeder flüchtige Gedanke, mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erreget Schaudern und Entsehen. Wir erblicken nichts als die Verzweiflung in ihrer schrecklichsten Gestalt vor uns, und kein Mitleid ist stärker, keines zerschmelzet mehr die ganze Seele als das, welches sich mit Vorstellungen 15 der Verzweiflung mischet. Von dieser Art ist das Mitleid, welches wir für den Philoktet empfinden, und in dem Augen Dichters so umschreibt: „Οὐ μονον ὅπου καλον οὐκ εἶχε τινα των ἐγχωριων γειτονα, ἀλλα οὐδε κακον, παρ ̓ οὗ ἀμοιβαιον λογον στεναζων ἀκουσειε1.“ Wie dieser Auslegung die angeführten Überseker gefolgt sind, so hat sich auch 20 ebensowohl Brumoy2 als unser neuer deutscher Überseker & daran gehalten. Jener sagt:,,sans société, même importune"; und dieser „jeder Gesellschaft, auch der beschwerlichsten, beraubet". Meine Gründe, warum ich von ihnen allen abgehen muß, sind diese. Erstlich ist es offenbar, daß, wenn κακογειτονα von τιν' ἐγχωρων getrennet werden und ein besonders Glied ausmachen 25 sollte, die Partikel οὐδε vor κακογειτονα notwendig wiederholt sein müßte. Da sie es aber nicht ist, so ist es ebenso offenbar, daß κακογειτονα ξι τινα gehöret und das Komma nach ἐγχωρων wegfallen muß. Dieses Komma hat sich aus der Übersetzung eingeschlichen, wie ich denn wirklich sinde, daß es einige ganz griechische Ausgaben (z. E. die Wittenbergische von 1585 in 8, 30 welche dem Fabricius völlig unbekannt geblieben) auch gar nicht haben, und es erst, wie gehörig, nach κακογειτονα seben. Zweitens ist das wohl ein böser Nachbar, von dem wir uns στονον ἀντιτυον, ἀμοιβαιπον, wie es der Scholiast erklärt, versprechen können? Wechselsweise mit uns seufzen, ist die Eigenschaft eines Freundes, nicht aber eines Feindes. Kurz also: man hat 35 1,Dort hatte er nirgends etwas Gutes, er hatte keinen einheimischen Nachbar, nicht einmal einen bösen, von dem er auf sein Seufzen einen antwortenden Klang vernommen hätte." - 2 Vgl. S. 22 dieses Bandes, Anm. 1. 3 Der Züricher Johann Jakob Steinbrüchel (1729-96); seine Philoktet = übersehung erschien in Zürich 1760. 4 „Ohne einen Gefährten, selbst einen lästigen." blicke am stärksten empfinden, wenn wir ihn auch seines Bogens beraubt sehen, des einzigen, was ihm sein kümmerliches Leben erhalten mußte. - O des Franzosen, der keinen Verstand, dieses zu überlegen, kein Herz, dieses zu fühlen, gehabt hat! Oder 5 wann er es gehabt hat: der klein genug war, dem armseligen Geschmacke seiner Nation alles dieses aufzuopfern. Chateaubrun gibt dem Philoktet Gesellschaft. Er läßt eine Prinzessin Tochter zu ihm in die wüste Insel kommen. Und auch diese ist nicht allein, sondern hat ihre Hofmeisterin bei sich; ein Ding, von 10 dem ich nicht weiß, ob es die Prinzessin oder der Dichter nötiger gebraucht hat. Das ganze vortreffliche Spiel mit dem Bogen hat er weggelassen. Dafür läßt er schöne Augen spielen. Freilich würden Pfeil und Bogen der französischen Heldenjugend sehr lustig vorgekommen sein. Nichts hingegen ist ernsthafter als der 15 Zorn schöner Augen. Der Grieche martert uns mit der gräulichen Besorgung, der arme Philoktet werde ohne seinem Bogen auf der wüsten Insel bleiben und elendiglich umkommen müssen. das Wort κακογειτονα unrecht verstanden; man hat angenommen, daß es 20 aus dem Adjectivo κακος zusammengesezt sei, und es ist aus dem Substantivo το κακον zusammengesekt; man hat es durch einen „bösen Nachbar“ erklärt und hätte es durch einen „Nachbar des Bösen“ erklären sollen. So wie naκομαντις nicht einen bösen, das ist falschen, unwahren Propheten, sondern einen Propheten des Bösen, κακοτεχνος nicht einen bösen, ungeschickten Künstler, son= 25 dern einen Künstler im Bösen bedeuten. Unter einem Nachbar des Bösen versteht der Dichter aber denjenigen, welcher entweder mit gleichen Unfällen als wir behaftet ist oder aus Freundschaft an unsern Unfällen Anteil nimmt; so daß die ganzen Worte οὐδ ̓ ἐχων τιν ̓ ἐγχωρων κακογειτονα bloß durch neque quenquam indigenarum mali socium habens zu übersehen sind. 30 Der neue englische Überseker des Sophokles, Thomas Franklin1, kann nicht anders als meiner Meinung gewesen sein, indem er den „bösen Nachbar" in κακογείτων auch nicht findet, sondern es bloß durch fellow - mourner 2 übersebet: 85 Expos'd to the inclement skies, " 1 Die Sophokles-Übersetzung von Thomas Franklin (1721-84) war 1759 erschienen. 2 Mitleidender. 3,Den mitleidlosen Küsten preisgegeben, liegt er verlassen und aufgegeben, kein Freund noch Mitleidender dort, um seinen Kummer zu lindern und sein Leid zu teilen." 4 Jean Baptiste Vivien Chateaubrun (1686-1775) veröffentlichte 1755 einen „Philoctete". 5 Besorgnis. Der Franzose weiß einen gewissern Weg zu unsern Herzen: er läßt uns fürchten, der Sohn des Achilles1 werde ohne seine Prinzessin abziehen müssen. Dieses hießen denn auch die Pariser Kunstrichter: über die Aten triumphieren; und einer schlug vor, das Chateaubrunsche Stück „la Difficulté vaincue" 5 zu benennen*. 3) Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzeln Szenen, in welchen Philoktet nicht mehr der verlassene Kranke ist; wo er Hoffnung hat, nun bald die trostlose Einöde zu ver-> lassen und wieder in sein Reich zu gelangen; wo sich also sein 10 ganzes Unglück auf die schmerzliche Wunde einschränkt. Er wimmert, er schreiet, er bekömmt die gräßlichsten Zuckungen. Hierwider gehet eigentlich der Einwurf des beleidigten Anstandes. Es ist ein Engländer, welcher diesen Einwurf macht; ein Mann also, bei welchem man nicht leicht eine falsche Delika- 15 tesse argwohnen darf. Wie schon berührt, so gibt er ihm auch einen sehr guten Grund. Me Empfindungen und Leidenschaften, sagt er, mit welchen andere nur sehr wenig sympathisieren können, werden anstößig, wenn man sie zu heftig ausdrückt**. „Aus diesem Grunde ist nichts unanständiger und einem 20 Manne unwürdiger, als wenn er den Schmerz, auch den allerheftigsten, nicht mit Geduld ertragen kann, sondern weinet und schreiet. Zwar gibt es eine Sympathie mit dem körperlichen Schmerze. Wenn wir sehen, daß jemand einen Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen soll, so fahren wir natür- 25 licherweise zusammen und ziehen unsern eigenen Arm oder Schienbein zurück; und wenn der Schlag wirklich geschieht, so empfinden wir ihn gewissermaßen ebensowohl als der, den er getroffen. Gleichwohl aber ist es gewiß, daß das Übel, welches wir fühlen, gar nicht beträchtlich ist; wenn der Geschlagene daher 30 ein heftiges Geschrei erregt, so ermangeln wir nicht, ihn zu ver * Mercure de France, Avril 1755. р. 177. — **,,The Theory of Moral Sentiments" by Adam Smith. Part I. sect. 2. chap. 1. p. 41. (London 1761). 1 Neoptolemos liebt in Chateaubruns „Philoctete" Sophie, die Tochter des Philoktet. 2 Wie die Anmerkung Lessings besagt, der berühmteste englische Nationalökonom Adam Smith (1723-90), dessen Erstlingswerk (zuerst 1759 erschienen) hier zitiert wird. 3 Unberechtigte Empfindlichkeit. 1 achten, weil wir in der Verfassung nicht sind, ebenso heftig schreien zu können als er." - Nichts ist betrüglicher als allgemeine Geseze für unsere Empfindungen. Ihr Gewebe ist so fein und verwickelt, daß es auch der behutsamsten Speku5 lation kaum möglich ist, einen einzeln Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzfäden zu verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon: was für Nuzen hat es? Es gibt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung gänzlich 10 verändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesek endlich selbst auf eine bloße Erfahrung in wenig einzeln Fällen einschränken. Wir verachten denjenigen, sagt der Engländer, den wir unter körperlichen Schmerzen heftig schreien hören. Aber nicht immer: nicht 15 zum ersten Male; nicht, wenn wir sehen, daß der Leidende alles mögliche anwendet, seinen Schmerz zu verbeißen; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen; noch weniger, wenn wir ihn selbst unter dem Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, daß ihn 20 der Schmerz zwar zum Schreien, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, daß er sich lieber der längern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirft als das geringste in seiner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ändert, ob er schon in dieser Veränderung die gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf. 25 Das alles findet sich bei dem Philoktet. Die moralische Größe bestand bei den alten Griechen in einer ebenso unveränderlichen Liebe gegen seine Freunde als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde. Diese Größe behält Philoktet bei allen seinen Martern. Sein Schmerz hat seine Augen nicht so vertrocknet, 30 daß sie ihm keine Tränen über das Schicksal seiner alten Freunde gewähren könnten1. Sein Schmerz hat ihn so mürbe nicht gemacht, daß er, um ihn los zu werden, seinen Feinden vergeben und sich gern zu allen ihren eigennükigen Absichten brauchen lassen möchte. Und diesen Felsen von einem Manne hätten 35 die Athenienser verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern können, ihn wenigstens ertönen machen? - Ich bekenne, daß ich an der Philosophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde; am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweiten Buche seiner „Tuskulanischen Fragen" über die Erduldung des körperlichen Schmerzes auskramet1. Man sollte glau- 5 ben, er wolle einen Gladiator abrichten; so sehr eifert er wider den äußerlichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem scheinet er allein die Ungeduld2 zu finden, ohne zu überlegen, daß er oft nichts weniger als freiwillig ist, die wahre Tapferkeit aber sich nur in freiwilligen Handlungen zeigen kann. Er hört bei dem 10 Sophokles den Philoktet nur klagen und schreien und übersieht sein übriges standhaftes Betragen gänzlich. Wo hätte er auch sonst die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfalle wider die Dichter hergenommen? „Sie sollen uns weichlich machen, weil sie die tapfersten Männer klagend einführen." Sie müssen 15 sie klagen lassen; denn ein Theater ist keine Arena. Dem verdammten oder feilen Fechter kam es zu, alles mit Anstand zu tun und zu leiden. Von ihm mußte kein kläglicher Laut gehöret, keine schmerzliche Zuckung erblickt werden. Denn da seine Wunden, sein Tod die Zuschauer ergöken sollten, so mußte 20 die Kunst alles Gefühl verbergen lehren. Die geringste Äußerung desselben hätte Mitleiden erweckt, und öfters erregtes Mitleiden würde diesen frostig-grausamen Schauspielen bald ein Ende gemacht haben. Was aber hier nicht erregt werden sollte, ist die einzige Absicht der tragischen Bühne und fodert daher 25 ein gerade entgegengesektes Betragen. Ihre Helden müssen Gefühl zeigen, müssen ihre Schmerzen äußern und die bloße Natur in sich wirken lassen. Verraten sie Abrichtung und Zwang, so lassen sie unser Herz kalt, und Klopffechter im Kothurne können höchstens nur bewundert werden. Diese Benennung verdienen 30 alle Personen der sogenannten Senecaschen Tragödien, und ich 1 Jm „Philoktet" des Sophokles, Vers 410 sf., fragt Philoktet teilnahmsvoll nach seinen früheren Genossen. 1 Cicero trägt im zweiten Buche der „Tuskulanen" die stoische Lehre von der Überwindung des Schmerzes vor. 2 Der Mangel an Standhaftigkeit. 3 Das Philoktet-Drama, das Cicero, „Tuskulanen", 2. Buch, Kap. 7, § 19, anführt, ist das des römischen Dichters Accius. 4,Tuskulanen", 2. Buch, Kap. 11, § 27. 5 Als Verbrecher verurteilter oder bezahlter Gladiator. • Früher wurde die Autorschaft des Lucius Annäus Seneca (ca. 4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) an den unter seinem Namen überlieferten zehn Tragödien vielfach angezweifelt. |